Die Gefährdung des „Königs der Wälder“ hat in einzelnen Populationen in Nord- und Mittelhessen stark zugenommen.
Verkürzte Unterkiefer bei Rotwildkälbern aus Nord- und Mittelhessen stellten bisher die Spitze des Eisberges der genetischen Verarmung dar. Doch nun wurde am 5. Juni 2023 am „Hohen Keller“ im Rotwildgebiet Burgwald-Kellerwald ein schwer krankes und kaum lauffähiges Rotwildkalb von Jägern gefunden und erlöst. Ein Video zeigt erschreckende Bilder. Es wurde zur Dokumentation angefertigt, um die veterinärmedizinischen Untersuchungen zu unterstützen.
Wissenschafter der Justus-Liebig-Universität Gießen bestätigen hohen Inzuchtgrad
Nun bestätigten Wissenschaftler aus dem Arbeitskreis Wildbiologie an der Justus-Liebig-Universität Gießen, die das erlöste Kalb untersucht haben, die Ursache für die schweren körperlichen Einschränkungen: Das Jungtier erbte Defektgene von einem eng verwandten Mutter- und Vatertier. Der hohe Inzuchtgrad führte zu den körperlichen Missbildungen und enormen Qualen, die dieses kaum lebensfähige Tier ausgesetzt war. Eine weitere Dezimierung des Rotwildbestandes speziell in dem betroffenen Rotwildgebiet würde die Situation zusätzlich verschärfen.
Autobahnen und restriktive Abschussvorgaben zwingen das Rotwild in „Inselpopulationen“ zu leben
Ursächlich für die genetische Verarmung, die mit jeder Brunft im Herbst mit großen Schritten voranschreitet, sind die zunehmende Eingrenzung der Lebensräume durch Autobahnen, Bundesstraßen aber auch durch restriktive Abschussvorgaben, die natürliche Wanderungen der Tiere in vielen Landesteilen nahezu unmöglich machen. Verschärft wird der Konflikt durch den Waldumbau und die Rückkehr des Wolfes.
Gefährdung des „Königs der Wälder“ hat in einigen Regionen Hessens stark zugenommen
Der Landesjagdverband Hessen und der Bayerische Jagdverband, verbunden durch die großen Rotwildgebiete Spessart und Rhön, schlagen deshalb Alarm: Es ist bereits fünf nach zwölf! Wenn die Politik nicht endlich handelt, lässt sich die Gefährdung der Überlebensfähigkeit des größten heimischen Säugetieres nicht mehr aufhalten. Gemeinsam mit renommierten Referenten aus Wissenschaft, Forst und Jagdpraxis haben die Verbände zum „Tag des Rotwildes“ nach Bad Orb eingeladen und zeigen Lösungswege auf, die fortschreitende genetische Verarmung aufzuhalten. Dazu ist jedoch ein sofortiges politisches Handeln notwendig. Ein erster wichtiger Schritt dabei ist, dass man junge wandernde Hirsche innerhalb und außerhalb der Rotwildgebiete schont, so die Forderung des Landesjagdverbandes Hessen. Es gilt, kleinere Rotwildgebiete wieder miteinander zu vernetzen und den Tieren artgerechte Wanderungen zu ermöglichen.
„Das nun erlöste Jungtier bildet die traurige Spitze der genetischen Verarmung unseres heimischen Rotwildes. Der Landesjagdverband Hessen fordert schon seit vielen Jahren eine aktive Wiedervernetzung von Lebensräumen – zum Teil bereits erfolgreich. Aus den drei Rotwildpopulationen Krofdorfer Forst, Dill-Bergland und Lahn-Bergland muss dringend eine zusammenhängende Population im genetischen Austausch entstehen, damit das Überleben des Rotwildes in Mittelhessen langfristig sichergestellt ist. Es ist absolut unverständlich, dass sich gerade das grün geführte Umweltministerium in Hessen einer Wiedervernetzung durch strenge Abschussvorgaben in den Weg stellt und den Bau von Grünbrücken an den neuralgischen Punkten, z. B. an der A5 und der A45, nicht intensiver und entschlossener vorantreibt. Der Biodiversitätsgedanke scheint für das heimische Rotwild nicht zu gelten. Forstwirtschaftliche Ziele dürfen die Artenvielfalt nicht gefährden. Das Umweltministerium muss nun endlich anerkennen, dass sich die Tiere, als auch das gesamte Ökosystem, nur durch einen regen regelmäßigen Austausch selbst tragen können“,
so Prof. Dr. Jürgen Ellenberger, Präsident des Landesjagdverbandes Hessen.
Intensive Rotwildbejagung führt zu höheren Schäden im Wald
Prof. Dr. Dr. (habil) Sven Herzog von der TU Dresden attestiert dem hessischen Rotwild eine stetige Verschlechterung der genetischen Situation seit den ersten Untersuchungen in den 1980er Jahren. Der Umgang mit dem Rotwild in Hessen sei nicht nachhaltig. Würde man den Zustand des Rotwildes – ähnlich wie beim Wolf – nach der FFH-Richtlinie beurteilen, hätte es den „günstigen Erhaltungszustand“ noch lange nicht erreicht. „Der zukünftige Umgang mit unseren Wäldern braucht nicht mehr Jagd, sondern mehr kluge Forstleute mit guten Ideen“, so Herzog. „Es ist ein Trugschluss anzunehmen, dass die Hälfte der Hirsche auch nur die Hälfte an Wildschäden verursacht. Ziel der Forstwirtschaft sind stabile, klimaresiliente Waldbestände, nicht eine hohe Jagdstrecke“, so Herzog weiter. Eine immer intensivere Rotwildbejagung führe zu immer intensiveren Schäden im Wald.
Lückenlose Beweisführung von Isolation der Tiere bis zu Missbildungen
„Die größte Bedrohung für das Rotwild ergibt sich aus der Isolation einzelner Populationen. In Hessen und Nordrhein-Westfalen sind die genetische Vielfalt als auch der genetische Austausch unter den Populationen stark eingeschränkt. Ein häufiges Vorkommen und entsprechende Lebensräume allein reichen nicht, wenn die Populationen voneinander getrennt und isoliert leben“, so Prof. Dr. Dr. (habil) Gerald Reiner vom Arbeitskreis Wildbiologie an der Justus-Liebig-Universität Gießen. Die zunehmende Inzuchtdepression wirke sich insbesondere auf die Fruchtbarkeit, Vitalität, das Anpassungsvermögen sowie auf die Resistenz gegen Krankheiten aus. Diese nicht mehr vorhandenen Merkmale bleiben – im Gegensatz zu den sichtbaren Unterkieferverkürzungen – in der Natur weitgehend verborgen. „Wir haben eine lückenlose Beweisführung von der Isolation über den Verlust genetischer Vielfalt bis hin zu gesteigerten Inzuchtgraden und dem Auftreten von Missbildungen. Besonders betroffen sind insbesondere die kleinen und isolierten Rotwildgebiete“, so Reiner weiter. Es gelte, die effektive (vermehrungsfähige) Populationsgröße zu steigern, um damit die Qualität zu erhöhen, ohne die tatsächliche Anzahl an Tieren zu vergrößern.
Der Landesjagdverband Hessen und der Bayerische Jagdverband appellieren daher mit Nachdruck an die Bundesregierung (zuständig für Autobahnen und Grünbrücken) sowie an das grün geführte Hessische Umweltministerium, die Wiedervernetzung von Lebensräumen voranzutreiben und überholte Abschussvorgaben abzuschaffen, die eine Gefahr für das Überleben des Rotwildes und für die Biodiversität in Hessen darstellen.
Bildergalerie und Video-Interviews mit den Referenten:
Auf dem „Tag des Rotwildes“ am 15. Juli 2023, sind die nachfolgenden Bilder entstanden. Interviews mit den Referenten finden Sie in unserem Instagramkanal und bei Facebook (auch ohne Facebook-Account aufrufbar, bitte das erscheinende Anmeldefenster einfach schließen).